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Interview von Kaspar Schürch: «Das Unesco-Label bringt Gäste aus aller Welt»

Die World Heritage Experience Switzerland mit Sitz in Bern macht den Spagat zwischen Erhalt und touristischer Förderung des Unesco-Welterbes in der Schweiz.

Vor genau 50 Jahren wurde die Unesco-Welterbe-Konvention zum Schutz von einzigartigen Kultur- und Naturstätten unterschrieben. Auslöser war der Bau des Nil-Staudamms, bei dem die Tempelanlage Abu Simbel im Flussufer zu versinken drohte. Dank einer internationalen Rettungsaktion wurde sie in Einzelteile zerlegt und an einer höheren Lage wieder aufgebaut – und damit gerettet. Das Unesco-Weltkulturerbe hat sich entwickelt. Inzwischen sind im Inventar 1150 Stätten weltweit aufgeführt.

Die Schweiz liess 1983 die ersten drei Orte eintragen: die Altstadt von Bern, das Benediktinerinnen-Kloster St. Johann in Müstair GR und den Stiftsbezirk St. Gallen. Inzwischen ist die Zahl auf 13 geklettert. Die Stätten werden von individuellen Trägerschaften finanziert, betrieben und unterhalten. Doch an einem Ort laufen alle Fäden zusammen: bei der World Heritage Experience Switzerland (WHES) mit Sitz in Bern und damit bei Kaspar Schürch. Der Geschäftsleiter und sein dreiköpfiges Team vernetzen die einzelnen Kulturstätten in der Schweiz untereinander, aber auch mit den zuständigen Ämtern und Partnern. Sie machen sich für die Vermittlung stark und sorgen dafür, dass das Welterbe touristisch genutzt wird.

Kaspar Schürch, die Unesco lancierte die Welterbe-Konvention zum Schutz von Gütern mit aussergewöhnlichem universellem Wert. Gibt es zwischen Schutz- und Tourismusgedanken Zielkonflikte?
Schützen und Nutzen ist ein grosses Thema. Da man nur schützen will, was man auch kennt, sind Tourismus und Schutz durchaus vereinbar. Die Unesco schützt das Welterbe, weil sie es an kommende Generationen weitergeben will. Je mehr Personen die Kulturstätten besuchen, desto bekannter werden sie. Die Unesco unterstützt den Tourismus als Treiber der lokalen Ökonomie, solange dieser gut geplant und den Prinzipien der Nachhaltigkeit entspricht. 2021 haben wir unsere Partnerschaft mit Schweiz Tourismus verstärkt. Das auch, um auf nationaler Ebene den Fokus auf die universellen Werte zu legen und so langfristig einen verträglichen Unesco-Welterbetourismus fördern zu können.

Gehen Sie hierfür auch in die Schulen?
Nicht direkt, aber wir bieten online Unterrichtsmaterial an. Ebenfalls stellen wir die Welterbestätten als ausserschulische Lernstätten zur Verfügung. Um diese Angebote bekannt zu machen, nahmen wir beispielsweise an der Swiss Didac teil, einer Messe in Bern für Lehrpersonen mit rund 300 nationalen und internationalen Ausstellern.

Haben Sie bereits Erfolgszahlen?
Hierfür ist es zu früh. Die Vermittlung ist eine langfristige Angelegenheit, und wir haben damit gerade erst begonnen. Wir haben aber bereits positive Feedbacks von Lehrpersonen bekommen, welche unsere Initiative sehr schätzen. Übrigens gibt es auf unserer Website auch Erklärvideos. Zum Beispiel dazu, wie ein Ort zum Weltkulturerbe wird.

Wie wird er das?
Für eine Kandidatur muss eine Stätte drei übergeordnete Kriterien erfüllen. Sie muss von aussergewöhnlichem universellem Wert sein und mindestens eines von zehn genau festgelegten Kriterien erfüllen. Sie muss authentisch sein, historische Echtheit vorweisen und unversehrt sein. Die Kandidatur muss zudem von der lokalen Bevölkerung mitgetragen werden. Wenn alle Punkte erfüllt sind, kommt die Stätte auf die «Liste indicative». Das Bundesamt für Kultur und das Bundesamt für Umwelt prüfen die Kandidaturen für die Schweiz, bevor diese vom Unesco-Welterbekomitee in Paris final behandelt werden.

Die Schweizer Alpen, insbesondere das Gebiet Jungfrau-Aletsch, sind ein Welterbe. Auf der Berner Seite wird das Jungfraujoch aber nicht mit Bildungstourismus, sondern mit Massentourismus bespielt. Blutet Ihr Herz?
Nein. Der Welterbe-Brand hat hier für die Schweizer Bevölkerung vielleicht einen anderen Stellenwert als für Ausländerinnen und Ausländer. Aber man sollte bedenken, dass die Touristen, egal aus welcher Reisekategorie, den Ort auch deshalb besuchen, weil er ein Weltnaturerbe ist. Grundsätzlich gilt: Je weiter die Leute reisen, desto eher orientieren sie sich am Brand Unesco-Welterbe. Das geht auch den Schweizern so. Orte wie das Jungfraujoch dienen auch der Besucherlenkung innerhalb eines Gebiets.

Kann die Wichtigkeit des Brands belegt werden?
Wir haben in der Tat die Schweizer befragt, ob sie das Unesco-Welterbe in der Schweiz kennen. Die Resultate waren beschaulich. In einer offenen Befragung konnten nur 15 Prozent angeben, dass die Altstadt von Bern zum Welterbe gehört. Bei einer gestützten Umfrage, also mit einer Auswahl an Antworten, haben 40 Prozent richtig geraten. Hingegen kennen wir alle den Machu Picchu oder den Taj Mahal und wissen um ihre Bedeutung als Unesco-Welterbe.

Bleiben wir beim Beispiel Jungfrau-Aletsch. Ist hier lediglich der Aletschgletscher geschützt?
Nein, es geht um mehr. Beispielsweise darum, wie die Bevölkerung mit dem Gletscher über die Jahrhunderte gelebt hat, wie es sich mit den verschiedenen Vegetationsstufen verhält oder wie der Tourismus das Gebiet geprägt hat. Deshalb gehört auch die Entwicklung mit dem Massentourismus dazu.

Der Klimawandel begünstigt die Gletscherschmelze. Ist der Gletscher erst einmal weg, fällt das Gebiet dann aus dem Porfolio der Unesco?
Das kann ich nicht beantworten, dafür gibt es Experten. Aber: Im Verzeichnis ist nicht der Gletscher, sondern das Gebiet als solches festgehalten, deshalb kann ich mir vorstellen, dass es ein Unesco-Welterbe bleibt. Vielleicht wird der Fokus verlegt, beispielsweise könnte die Gletscherschmelze dokumentiert werden. Oder wie die Bevölkerung mit der Gletscherschmelze umgeht. Die lokale Trägerschaft ist in diesem Bereich bereits heute sehr aktiv und setzt sich mit dem Thema auseinander.

Wie gehen Sie mit dem Trend zu nachhaltigem Reisen um?
Reisen verträgt sich mit Umweltschutz nur bedingt. Deshalb suchen wir Partner, die möglichst nachhaltiges Reisen anbieten. Eurotrek beispielsweise bietet Ferien an, die wenig CO₂ ausstossen. Die Anreise erfolgt per ÖV, und die Ferien an und für sich sind auf Langsamverkehr wie Wandern und Veloreisen ausgerichtet. Hier dürfen wir mit Stolz sagen: Die Welterbestätten stehen bereits für Nachhaltigkeit, sie sind zum Teil mehr als tausend Jahre alt.

Wie würde die WHES reagieren, wenn mitten in den geschützten Buchenwäldern von Solothurn eine Hubschrauberplattform geplant würde?
Der Schutz läuft über die Bundesämter. Das Bundesamt für Umwelt ist für die Naturerbestätten zuständig. Das Pendant für die Kulturerbestätten ist das Bundesamt für Kultur. Ich muss aber betonen, dass es so ein Projekt selten bis nie gibt. Natürlich erhalten wir knifflige Anfragen, die wir zwar nicht selbst beantworten, dank unserem Netzwerk aber weiterleiten können.

Bei den einzelnen Weltkulturerbestätten gibt es viele Anspruchsgruppen. Wie geht man damit um?
Das ist Sache der individuellen Governance der Welterbestätten. Sie sind verpflichtet, dies in einem Managementplan zu regeln. Vorzeigebeispiel hierfür ist der Stiftsbezirk St. Gallen. Dort wurde der Managementplan überarbeitet und mit allen Akteuren eine Lösung gefunden: Kirche, Kanton, Stadt, Tourismus und Museum. Damit haben sie die Verantwortungen und Schnittstellen vor Ort geklärt. Das entflechtet und löst viele Probleme. Einige Welterbestätten sind jedoch noch nicht so weit.

Sind Unesco-Welterbestätte aus touristischer Sicht noch zeitgemäss?
Ja, absolut. Sie werden immer wichtiger. Gäste suchen vermehrt authentische Orte, welche für wahre Werte und Traditionen stehen. Das Welterbe dient als Beispiel, wie man die Natur und die Kultur nachhaltig touristisch nutzen kann.

Kann der Schweizer Tourismus noch mehr aus dem hiesigen Unesco-Welterbe herausholen?
Das denke ich schon. Das Label hat einen hohen Wert, es bringt Gäste aus aller Welt. Statistisch belegen lässt sich dies aber nur bedingt.

Kann eine Region mit dem Unesco-Welterbe werben?
Das ist ein schwieriges Thema. Beim Welterbe geht es in erster Linie um den Erhalt einer Stätte. Dass man das Label zu touristischen Werbezwecken verwenden darf, ist eine individuelle Sache und muss mit den verschiedensten involvierten Stellen abgesprochen sein. Laut der Unesco gehören die Welterbestätten nämlich der Menschheit und nicht bloss einer Tourismusorganisation oder einem einzelnen Land. Deshalb gibt es auch kein Schweizer Unesco-Welterbe an sich. Den Unesco-Gedanken finde ich übrigens sehr schön.

Das klingt nach einem engen Korsett.
Das ist so. Die Unesco-Richtlinien sehen vor, dass aus dem Welterbe kein kommerzieller Nutzen gezogen wird. Deshalb gibt es ein Wording, das in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für auswärtige Angelegenheiten erarbeitet wurde. Natürlich kann das sinnvoll sein, aber es ist in der Umsetzung, gerade für Vertreter aus dem Tourismus, nicht immer einfach.

Das Unesco-Programm setzt auf Labels wie Natur- und Kulturerbestätten, immaterielles Erbe oder Biosphären. Braucht es diese Unterscheidung?
Jedes Label setzt andere Kriterien voraus. Für die WHES, die vor allem in der Kommunikation tätig ist, ist diese Vielfalt nicht immer einfach. Die Begriffe werden in der Öffentlichkeit oft unpräzise verwendet. Unser Job ist es, in der Bevölkerung und in den Medien Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten.

Das Lavaux mit seinen Rebbergen ist ebenfalls Unesco-Welterbe. Früher wurden alle Weine im Holzfass gelagert, heute stehen aber auch Stahltanks im Weinkeller. Wie geht die Unesco mit Veränderungen um?
Veränderung muss Platz haben. Das Erbe soll kein Museum sein, sondern es soll leben und sich entwickeln. Natürlich führt das auch zu Spannungen. Schauen wir beispielsweise auf die Altstadt von Bern, wo man in einem geschützten Ort wohnt, arbeitet und lebt. Das birgt Konfliktpotenzial. Es müssen ständig Kompromisse gefunden werden.

Die Festung und die Stadtmauern von Bellinzona sind geschützt, nicht aber das Matterhorn.
Der berühmte Berg in Zermatt ist zwar schön, hat aber ein zu wenig starkes Alleinstellungsmerkmal. Das ist in Bellinzona anders. Dort haben wir ein weltweit einzigartiges Beispiel für die Befestigungskunst im Mittelalter. Auf unserer neuen Webplattform Unsererbe.ch werden genau solche Besonderheiten und einzigartigen Werte verständlich aufgezeigt, und die Besuchenden finden Tipps und Informationen für einen Besuch vor Ort.

Von wem und warum wurde die WHES eigentlich ins Leben gerufen?
Die touristischen Regionen um die Welterbestätten in der Schweiz haben den Verein WHES 2009 aus der Taufe gehoben. Der ursprüngliche Gedanke war, das Welterbe bei Schweiz Tourismus besser zu verankern. Inzwischen wurden immer mehr Ansprüche von der Basis an uns herangetragen. Die Geschäftsstelle und das Angebot wuchsen. Neben touristischen Anliegen machen wir uns heute mitunter auch für die Vermittlung und das Management stark. Wir bieten unseren Partnern ein Netzwerk im Welterbe-Umfeld.

Die WHES ist eine neutrale NPO, die vereinsrechtlich organisiert ist. Wer sind die Träger?
Wir werden von verschiedenen Partnern rund um die Welterbestätten getragen. Es gibt hier keine einheitliche Organisation. Das können Tourismusorganisationen oder auch private Trägerstrukturen, Vereine oder Stiftungen sein. Unsere Mitglieder bezahlen einen Mitglieder- und, je nach Leistungsauftrag, einen Marketingbeitrag. Das Buget beläuft sich auf rund 500 000 Franken. Bund und Kantone unterstützen uns projektbezogen. Unsere neue Webplattform Unsererbe.ch konnten wir beispielsweise dank einem NRP-Projekt mit den Kantonen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft finanzieren. Wir arbeiten aber auch mit verschiedenen Universitäten oder auch international mit Verbänden aus anderen europäischen Ländern zusammen.

Vor 50 Jahren wurde die Unesco-Welterbe-Konvention unterzeichnet. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass mehr Schweizer die Welterbestätten besuchen und diese durch Mund-Propaganda bekannter werden. Und dass die Schweizer Bevölkerung stolz auf die 13 Welterbestätten im eigenen Land ist, sie mitträgt und an die kommenden Generationen weitergibt.

Das Interview wurde von Blanca Burri und Nora Devenish durchgeführt und wurde auf htr.ch veröffentlicht (2022).